orte


In der Zeit des Kalten Krieges bildete auf Stadtplänen Ostberlins der Westteil eine weisse Fläche. Auch im Streckennetz der U-Bahn-Ost suchte man die Bahnhöfe Westberlins, wo die Züge durchfahren mussten, vergeblich. Nicht immer sind die Leerstellen im Stadtraum so offensichtlich und ihre Motive – hier die Verhinderung der «Republikflucht» - so leicht zu durchschauen. Doch auch andere Städte und Regionen tun sich schwer mit der Bedeutung der Räume. In Lublin liess die Regierung 2018 eine Gedenktafel für Rosa Luxemburg entfernen. Vergeblich wehrte sich 1928 in Zürich der Hausbesitzer gegen eine Tafel an Lenins ehemaligem Wohnort, weil er eine Wertminderung fürchtete. Mancherorts fehlen bis heute gehaltvolle Hinweisschilder, es stehen fragwürdige Figuren auf einem Sockel oder aber eine «Deckerinnerung» (eine systematische Verwechslung oder eine Attrappe bzw. ein «Simulacrum», Baudrillard) lenkt ab von realen Hintergründen eines Ortes.

Selbst an einem beschaulichen Ort wie Zürich ist die Geschichte nicht spurlos vorbeigezogen. Die 25 mit Denkmälern gewürdigten realen geschichtlichen Persönlichkeiten spiegeln die Geschichte dieser Stadt nur unzureichend. In neu entstandenen Wohnvierteln erinnern zwar Strassennamen an mutige Künstlerinnen oder politische Vordenker, doch wirken manche Gebäude wie Attrappen: Das Wohnhaus von Lenin ist nicht mehr das Original, das Stadthaus ist eine Kopie, das Opernhaus war eigentlich für Krakau bestimmt, das Landesmuseum eine Art Phantasieschloss, ganz im Sinn einer "erfundenen Vergangenheit" (Hobsbawm). Anderes trifft ohne Not die Abrissbirne. Architektonische Eigenständigkeit und Grösse zeigt sich meistens in Nischen: bei den zahlreichen Badeanstalten, bei einzelnen Schulhäusern oder bei Wartehäuschen für den öffentlichen Verkehr. Eher metaphorisch verweisen manche Strassenstümpfe oder verborgenen Tunnel auf verhinderte Projekte. Als 2009 ein Tag lang statt Blechkolonnen Fussgänger und Velofahrerinnen über die verkehrsreiche Hardbrücke zogen - ein Albtraum für jeden Lobbyisten -, hatte Zürich das ermöglicht, was in Hongkong oder Rio jedes Wochenende stattfindet.

Jüngeren Erinnerungsaktivitäten – wie der reichlich spät angebrachten Gedenktafel an der Universität für Nadeschda Suslowa, einzelner «Stolpersteine» oder der Absicht heute als rassistisch lesbare Bezeichnungen zu eliminieren - stehen die vielen fehlenden Hinweise auf naheliegende Schand- und Heldentaten gegenüber. Wo lebten hier Flüchtlinge im Zweiten Weltkrieg? Wo die sogenannten «Schrankkinder»? In welche Kunsthallen floss das Geld der Kriegsgewinne? Wohin der Profit aus der Apartheidzeit? An welchen Adressen traf sich der antifaschistische Widerstand? An welcher Strasse stand die russische Bibliothek? Wie gelangt man zur verschämt weggeräumten Kunstfigur in einem Hinterhof? Ist es Zufall, dass man das von einer Bank gesponserte Denkmal für den Weberaufstand leicht übersieht?

Die Fassade des putzigen und puritanisch aufgeräumten Stadtbildes hat also durchaus eine Kehrseite mit Kontrasten, Abgründen und zuverlässigen Anhaltspunkten für Fragen.



Quellen:

Kälin, Adi: Der Revolutionär und die Spiesser. NZZ 22.2.2017 - Arnet, Hélène: Mahnmale für Zürcher KZ-Opfer: Stolpersteine gegen das Vergessen. TA 27.11.2020 - Arnet, Hélène: Zürcher Rassismus-Diskussion: Was es mit der Hausbezeichnung "Mohren" auf sich hat. TA 13.4.2021 - www.news.uzh.ch/de/articles/2020/suslowa_gedenktafel.html - www.berlinermaueronline.de/karten/berlinkarten_03.htm - de.wikipedia.org/wiki/Geister-bahnhof - de.wikipedia.org/wiki/Rosa_Luxemburg (Alle Webseiten Stand 3.5.21)


Literatur:

Fässler, Hans: Reise in Schwarz-Weiss. Schweizer Ortstermine in Sachen Sklaverei. Zürich 2005. - Ineichen, Stefan: Zürich 1933-1945. 152 Schauplätze. Zürich 2012. - Kosch, Arlette: Literarisches Zürich. Weimar 2002. - Krüger, Ute: "Zürich, du mein blaues Wunder" Zürich 2004 - Lutz, Rafael: Heisse Fäuste im Kalten Krieg. Antikommunistischer Krawall beim Bahnhof Enge 1957. Zürich 2019. - Pollack, Martin: Kontaminierte Landschaften. St. Pölten, Salzburg, Wien 2014. - Schwarz, Lotte: Die Brille des Nissim Nachtgeist. Zürich 2018. - Verein Frauenstadtrundgang Zürich (Hg.): Chratz & quer. Zürich 2003. - Wende, Frank u.a.: Deutschsprachige Schriftsteller im Schweizer Exil 1933-1950. Wiesbaden 2002.


Möchten Sie eine Stadtführung buchen?





Zu entdecken in Zürich

- Cooperativa

- Scuola libera italiana

- Russische Bibliothek

- Pension Comi

- Bahnhof Enge

- Belvoir

- Heidi Weber Haus

- Burghölzli

- Zürichberg

- Telefonzentrale Hottingen

- Hardbrücke

und vieles mehr ...